Ende des Kapitalismus oder sozial-ökologische Transformation?

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Von Friedrich Carl

Die Thesen Wolfgang Streecks, langjähriger Direktor des Max-Planck-Instituts in Köln, zum Ende Kapitalismus standen am 21.08.2015 im Mittelpunkt eines Theoriekreises des Sozialistischen Forums Rheinland. Streecks zentrale These lautet, dass der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten alle relevanten Gegenkräfte besiegt habe und gerade deshalb zum Untergang verurteilt sei. Nicht der Sturm auf irgendein Winterpalais, sondern ein langer, chaotisch verlaufender Niedergang werde  das Schicksal des Kapitalismus besiegeln. Nach Streecks Auffassung sind es die politischen und gesellschaftlichen Gegenkräfte, die der Kapitalverwertung in jeder historischen Phase bestimmte Schranken setzten und ihn paradoxerweise dadurch stabilisierten. Mit Karl Polanyi nennt er die „fiktiven Waren“: Geld, Arbeit und Natur. Wenn sie dem ungeregelten Zugriff des Kapitals ausgesetzt sind, zerstört der Kapitalismus seine eigenen natürlichen und sozialen Grundlagen. Heute seien die Gegenkräfte, namentlich die Gewerkschaften und die politische Linke, im globalen Maßstab besiegt. Die „Absicherung der Marktwirtschaft gegen demokratische Eingriffe“ sei weit fortgeschritten und eine „Entdemokratisierung des europäischen Kapitalismus“ festzustellen. Weiter nennt Streeck „systemische Störungen“ des heutigen Kapitalismus: „Stagnation, oligarchische Umverteilung, Plünderung der öffentlichen Sphäre, Korruption und globale Anarchie“. Streecks Analyse des Kapitalismus, seiner Sorge um die Demokratie und der Geißelung von Missständen kann man leicht folgen. Doch die pauschale Einschätzung der heutigen Linkskräfte in der Welt ist so undifferenziert unter dem Niveau des brillianten Dialektikers. Und Streecks Weigerung, auf Alternativen zu sinnen, mag allenfalls als persönliche Beschränkung auf eigene Stärken durchgehen.

Mit seinem Pessimismus steht Streeck nicht allein. So bezieht er sich auf die These des Ex-Obama-Beraters Larry Summers von der „säkularen Stagnation“ (= sehr lang andauernde Stagnation). In seinem Blog zeigt Summers mit schönen Abbildungen, wie die Wachstumserwartungen der westlichen Länder sich in Luft auflösten. Ein weiterer Bezug ist das „Gegenwind“-Szenario des US-Ökonomen Robert J. Gordon, dem zufolge der kapitalistische Fortschritt in den USA in eine Sättigungsphase mit immer weniger Wachstum eingetreten sei. Ein Blick in die Statistik bestätigt die Pessimisten: Der Nachkriegsboom erreichte 1973 seinen Abschluss, mit gut 6% Wachstum in der EU, der OECD und weltweit. Diese Werte wurden seither nicht wieder gesehen. Und nun kommt das Kontrastprogramm: In Indien, Indonesien, Vietnam, Kambodscha und vor allem China sind seit Jahrzehnten Wachstumsraten zwischen 5 und 15% üblich, von wenigen Krisenjahren unterbrochen. Zur Zeit überholt China die USA als größte Wirtschaftsmacht. Beim Export von High-Tech-Produkten, also Produkten mit hohem Forschungs- und Entwicklungsanteil, liegt China mit 560 Mrd.$ in 2013 bereits weit vor den USA mit 145 Mrd.$, 2013. In globaler Perspektive erweist sich die säkulare Stagnation als eine Verschiebung des geografischen Fokus der Kapitalakkumulation aus den alten Zentren nach Südostasien. Das Kapital ist dabei wohlauf und rücksichtslos wie eh und je, wie die vielen schrecklichen Unfälle in Asien bestätigen.

Doch in der historischen Perspektive bleibt Streecks Analyse richtig: In den 1930er Jahren, in vielem mit der heutigen Situation vergleichbar, waren es kämpferische Gewerkschaften und radikale Reformisten, denen es mit volksfrontartigen Bündnissen in den USA, in Norwegen und Schweden gelang, dem Kapital  neue Grenzen zu setzen, und das für lange Zeit. Der Ansatz, die „fiktiven Waren“ Geld, Arbeit und Natur zu regulieren und Kaufkraft in die Hände der Vielen zu geben, erschloss der vorher stagnierenden industriellen Massenproduktion ganz neue Absatzchancen, zusätzlich angefacht durch die Kriegskonjunktur und den Wiederaufbau, und führte zu einem jahrzehntelangen und historisch einzigartigen Aufschwung der Weltwirtschaft.

Was kann man für die heutige Situation daraus lernen? Auch in den 30er Jahren gab es eine Diskussion um die „säkulare Stagnation“. Auch heute steht die Menschheit vor gewaltigen Herausforderungen. Ist es auch heute denkbar, dass durch ein antikapitalistisches „Bündnis von Arbeit, Kultur und Wissenschaft“, radikale soziale und ökologische Reformen und den breiten Einsatz nachhaltiger Technologien eine neue Phase des Wohlstands für die Vielen und der „Einbettung“ des Kapitals initiiert werden kann? Seit 1966 befasst sich das innovationsökonomische Institut SRPU an der Universität Sussex mit den Auf und Abs der Kapitalakkumulation der letzten 240 Jahre und den Chancen politischer Steuerung. Die beiden profiliertesten Vertreterinnen der Schule, Carlota Perez und Marianna Mazzucato, zeigten 2014 in einem gemeinsamen Papier bezogen auf die EU, Perspektiven zur Überwindung der Stagnation auf. Hier nur so viel: Die (englischsprachige) Lektüre lohnt! Auf dem Seminar "Demokratische Innovation im digitalen Zeitalter“ werden wir uns auch mit diesem Ansatz befassen (auf deutsch). Noch sind einige Plätze für Tagesgäste verfügbar!